Der Weihnachtsmann

Aber auch gut erzogene und ordentliche kleine Menschen werden größer und kritischer und zweifeln oft sogar an Dingen, die sie eigentlich aus Gehorsam und Höflichkeit nicht anzweifeln sollten.
Ein typischer Fall dafür war die Sache mit dem Weihnachtsmann, der überall immer mit rotem Mantel, roten Stiefeln, weißem Bart und sehr dick und behäbig dargestellt wurde. Auf den freute ich mich eigentlich immer, wenn es – wie jedes Jahr – kräftig „weihnachtete“. Nur eins war sehr schade: Zu uns kam dieser nette Weihnachtsmann nie.
Unserer war zwar auch ganz nett, aber er erzählte immer die gleichen Lebensweisheiten wie Papa und hatte immer einen schwarzen Eisenbahnermantel an. Im Gesicht hatte er einen zotteligen, grauen Bart, eine rote Säufernase, trug schwarze Stiefel und dazu noch eine gefährlich aussehende große Rute an einer Wäscheleine, die er anstelle eines Gürtels um den Bauch gebunden hatte.
Was ihn mir aber besonders unheimlich und verdächtig machte, war die Tatsache, dass er statt eines Bauches einen Buckel hatte. Er musste wohl oder übel aus dem Harz stammen, denn figurmäßig ähnelte er mehr einer Brockenhexe als einem Weihnachtsmann.
Sein Gesicht wirkte auch irgendwie tot und wächsern und an den Händen trug er dunkelbraune Plastiklederhandschuhe. Alles wirkte irgendwie unecht und nahezu teuflisch. Ich hätte ihn gern mal gefragt, ob er auch einen Pferdefuß hatte. Aber dazu hatte ich nicht den Mut.
Auch die Tatsache, dass er stets Papas Taschenkalender zückte, wenn ich mein Weihnachtsgedicht aufgesagt hatte und mir dann alle meine Sünden des ganzen Jahres vorlas, stimmte mich schon sehr nachdenklich.
Einmal wollte ich ihn schon fragen, ob er meinen Vater erschlagen und ihm den schönen Taschenkalender geklaut hätte. Aber angesichts der drohend gezückten Rute (schwere Erinnerung an Omas aktiven Krückstock!) verging mir die Lust dazu. Es lief mir vor Angst eiskalt den Rücken herunter und ich begann zu stottern, was alle Anwesenden, besonders den schwarzen Weihnachtsmann, mit grimmiger Genugtuung erfüllte. Denn wenn jemand stottert, hat er ein schlechtes Ge-wissen und Angst, meinten die Erwachsenen.
Und obwohl das Kind sofort Reue zeigte und gelobte, sich zu bessern, nahm der Weihnachtsmann erst einmal eine erziehe-risch sehr wertvolle Aufgabe wahr.
Für die Erwachsenen war es anscheinend immer sehr lustig, wenn ich mit der Rute ein paar Schläge für irgendwelche Schandtaten einstecken musste, die schon fast ein Jahr zurücklagen. Aber wie Vater immer sagte: „Gut Ding‘ will Weile haben“.
So überließ er es lieber dem schwarzen Bestrafungsweihnachtsmann, mich wieder auf den Pfad der Tugend zu bringen, statt mich selbst zu erziehen. So ein paar Rutenschläge fand er wohl ganz in Ordnung, denn „ein paar Klapse auf den Hintern hatten noch niemandem geschadet“. Dass die mir aber absolut keinen Spaß machten, war den Erwachsenen anscheinend völlig egal.
Vor allem, wenn ein anderer sie austeilte und nicht der stets wohlmeinende Vater. Auch er wäre ja schließlich ein ordentlicher Mensch geworden, betonte er immer wieder. Und wie oft hätte er als Kind Schläge bekommen!
Und was für welche! Oh Mann, oh Mann!
Was musste mein Papa doch in seiner Jugend für ein Ausbund an Bosheit und ein Schrecken der Nachbarschaft gewesen sein! Und nur den Schlägen offenbar war es zu verdanken, dass er kein Verbrecher geworden war.
Die Ehrfurcht vor den heilsamen, weihnachtsmännlichen Schlägen kroch mir immer schon vorher den Rücken herunter bis hin zu jener Stelle, die dessen Rute immer so gut zu treffen pflegte. Dann aber, wenn der Schlag saß, fielen mir sofort alle meine Sünden ein und ich zählte anfangs immer eifrig mit, wie viele Sünden ich begangen hatte. Der Rutenschwinger wusste es ja sowieso. Also brauchte ich nicht nachzudenken, sondern mir nur die Anzahl der Klapse zu merken.
„Sehr praktisch“, schoss es mir durch den Kopf. „Der weiß ja alle ‚klapswürdigen’ Vergehen.“ Ich beschloss, Papa mal zu fragen, ob er in seiner Jugend auch so vorgegangen war. Aber die Fragerei musste warten, weil der ja niemals dabei war, wenn der Weihnachtsmann kam.
Nur Mutter, Oma und der komische, oft etwas unheimliche Weihnachts-Rutenschwinger standen zur Bescherungszeit je-des Mal im Zimmer herum. Und genau das mochte ich an dem viel gerühmten und bewunderten Chef F. J. Kletterke über-haupt nicht leiden:
Wenn ich darauf wartete, dass der Weihnachtsmann klopfte, hatte der Chef ein ständiges Verlangen nach meinem Vater, so dass er fast immer in die Fabrik musste, wenn die Bescherung begann. Schöne Bescherung!
Also musste ich Papa immer alles haargenau erzählen, was der „liebe, gute Weihnachtsmann“ alles so von sich gegeben und von mir hatte wissen wollen. Besonders auf die Sünden legte Papa großen Wert.
Also durchlebte ich meine Schandtaten immer dreimal: einmal beim Begehen der Tat, dann in Form der ersten Beichte beim Weihnachtsmann und schließlich noch einmal bei der Bericht-erstattung für meinen arbeitswütigen Vater. Das war schon schlimm.
Lügen hatte auch keinen Sinn. Schließlich hatte Vater den Weihnachtsmann immer getroffen, wenn er nach Hause kam, so richtig zünftig mit alter Aktentasche und Thermosflasche ausgestattet und mit dicken Arbeitsklamotten bekleidet. Es war ja immerhin Winter.
„Also hat dieser verräterische, schwarze Kerl dem Vater schon wieder alles gepetzt“, dachte ich wütend und lechzte nach Rache. Aber die musste verschoben werden, bis ich älter war. Zwar war ich im Wald gegen die Geister der betrunkenen russischen Soldaten ein Held gewesen, aber dieser Weihnachtsmann hier war kein Geist, sondern sehr echt. Besonders meine lädierte Kehrseite konnte ein Lied davon singen, wie real der zuschlagen konnte.
Aber diesem alljährliche Ritual der weihnachtlichen Buße folg-te auch immer etwas Gutes: Anschließend an die ganze Strafaktion gab es tolle Geschenke, die immer ganz tief unten in unserem alten Kartoffelsack steckten. Den hatte ich gleich an der roten Naht erkannt. Aber Mutter sagte, der Weihnachts-mann habe ihn sich bei uns ausleihen müssen, weil sein eigener schöner Sack kaputt gegangen war.
Und das Weihnachtsfest des Jahres 1958 war besonders schön: Zuerst kamen die Apfelsinen aus dem Sack, dann ein Rasiermesser für Oma …
Aber halt, da hatte sich der Weihnachtsmann vertan. Das war doch wohl eher für Papa gedacht. Ich hob es in weihnachtsmännlichem Auftrag solange auf, bis er von der „Arbeit“ heimkam. Für Mutter gab es einen Schal. Für mich dann wollene Strümpfe …
Aber nein! Die waren ja für Oma, denn sie trug immer baum-wollene Makostrümpfe. Sie waren auch viel zu lang für achtjährige, kleine Helden. Nachdem noch einige kleinere Geschenke verteilt worden waren, ging der Weihnachtsmann endlich. Und das, obwohl ich mir eigentlich noch viel mehr Geschenke erhofft hatte.
Enttäuscht wartete ich noch eine Weile und wurde immer trauriger. Doch dann hörte ich Papa kommen und öffnete ihm die Tür. Einen kleinen Rest Hoffnung hatte ich ja doch noch. Und genau wie jedes Jahr hatte der Weihnachtsmann auch diesmal draußen etwas vergessen und es dem Papa gegeben oder vor die Tür gestellt, damit es von ihm gefunden wurde.
Voriges Jahr war es ein Plastikflugzeug gewesen, dieses Mal ein großer Karton mit einer für mich unvorstellbar großen Dampfmaschine. Und zwar mit richtiger Dampfpfeife und ei-nem Schleifstein als Zusatzgerät, damit ich die Messer meiner späteren Rache schleifen konnte.
Diese Dampfmaschine hatte ich mir so sehr gewünscht. Aber der Weihnachtsmann hatte sie mir eben nicht gleich gegeben. Stattdessen hatte er mich warten lassen, weil ich eben ab und zu mal ein wenig unartig gewesen war. Strafe musste eben sein und etwas Enttäuschung und Weinen auch – zusätzlich zu all den bereits erlittenen Rutenhieben. Tja, das war eben noch solide Erziehung durch das Elternhaus!
„Da hält da Junge die Geschenke ooch besser in Ehren“, ver-suchte Oma meinen Eltern diese Geschenk-Verzögerungs-taktik zu erklären. So erfuhr ich ungewollt, dass diese Idee wenigstens nicht von dem Weihnachtsmann, sondern von der Oma stammte. Wahrscheinlich hatte er mit dem Verteilen der vielen Weihnachtsgeschenke soviel zu tun, dass er bei dem pädagogisch sinnvollen Einsatz der Rute und all der Geschenke den Rat einer erfahrenen Frau wie meiner Oma brauchte. Ich hätte diese Dampfmaschine eigentlich noch gar nicht bekommen sollen. Aber scheinbar hatte sich der Weihnachtsmann durch meine Kriegslist des übertriebenen Traurigseins täuschen lassen und die Dampfmaschine vor der Wohnungstür abgestellt.
Wie Papa sagte, hatte er wohl auch geklopft, aber das hatte ich vor Enttäuschung und den Nachwirkungen der weinachtsmännlichen Schläge auf meine Kehrseite und dem bei uns üblichen Abspielen der Weihnachtslieder sicher nicht gehört.
Wenn  nun mein Vater nicht rechtzeitig von der Arbeit ge-kommen wäre, als der Geschenkkarton da draußen stand, hätte vielleicht jemand anders meine schöne Dampfmaschine einfach mitgenommen und ich …
Gar nicht auszudenken!

aus: Geschichten eines Harzer Lausbuben (4. Kapitel)
Buch bestellen